20.01.2025
Neue Perspektiven, wichtige Erkenntnisse und innovative Lösungsansätze dank der Verknüpfung unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und Themenbereiche: Prof. Christine Sutter (Öffnet in einem neuen Tab) hat mit ihrem Team und Forschungspartnern Trainingsansätze speziell für Polizeien wie Schießtraining, Mentaltraining oder virtuelle Großeinsatzlagenübungen entwickelt. Deren Transfer in die Praxis bietet für Anwendende Chancen zur evidenzbasierten Problemlösung, ist aber gleichzeitig mit Herausforderungen verbunden. Das Team der Vernetzungsstelle polizeiliche Sicherheitsforschung (VEST SiFo) (Öffnet in einem neuen Tab) hat hierüber mit der Arbeits- und Organisationspsychologin der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) gesprochen. Sie forscht seit mehr als zwanzig Jahren zu Querschnittsthemen der Verkehrssicherheit und Psychologie.
VEST SiFo: Frau Prof.'in Dr. Sutter, in Ihrem Fachgebiet II.4 "Verkehrswissenschaft und Verkehrspsychologie (Öffnet in einem neuen Tab)" forschen Sie zu einem breiten Themenspektrum. Können Sie uns einen kurzen Überblick geben?
Prof. Dr. Christine Sutter: Gerne. Ich habe mich auf zwei große Themenbereiche spezialisiert: Der eine ist die Mensch-Technik-Interaktion, also wie agieren Menschen in oder mit technischen Systemen? Und hier kommt direkt der Bezug zur Verkehrswissenschaft und -psychologie ins Spiel: Auch im Straßenverkehr haben wir die Interaktion mit technischen Systemen, wenn wir an das Auto denken, oder schon alleine, wenn ich als Fußgängerin einen Ampelschalter drücke. Auch das ist eine Mensch-Technik-Interaktion. Daher beschäftigen wir uns in dem Bereich mit sehr aktuellen Themen wie Vernetzung und Digitalisierung im Straßenverkehr und wie sich das auf Verkehrsteilnehmende und auf Unfälle auswirken wird. Das ist ein großer Themenbereich.
Der zweite Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit der Arbeitsplatzgestaltung, den Arbeitsbedingungen und dem Wohlbefinden. Das ist das klassische Portfolio was wir aus der Arbeits- und Organisationspsychologie kennen. Wir haben aktuell eine immer stärkere Verschmelzung zwischen Privat- und Berufsleben, Work-Life-Blending ist hier der Begriff. Das macht was mit Mitarbeitenden. Es ist Fluch und Segen zugleich. Da gucken wir ganz genau hin und erforschen, wie auch unter solchen Bedingungen eine große Arbeitszufriedenheit und das Wohlbefinden erhalten bleiben.
VEST SiFo: Bedienen Sie sich bestimmter Ansätze in Ihrer Forschung?
Prof. Dr. Christine Sutter: Wir verfolgen zwei Ansätze in unserer Forschung. Erstens: wo können wir die Technik oder die Rahmenbedingungen der Arbeit für den Menschen passend machen? Das geht in vielen Bereichen. In manchen Bereichen geht es eben nicht. Wenn wir an die Polizeiarbeit denken: hier können wir den Arbeitsplatz nicht unbedingt sicherer machen, weil die Art der Tätigkeit einfach mit sich bringt, dass auch immer wieder Gewalt gegen Polizeikräfte ausgeübt wird und dass ein hohes Maß an Eigensicherung erforderlich ist. Das heißt, hier müssen wir, als zweiten Ansatz, den Menschen an diese Anforderungen anpassen und dafür entwickeln wir Trainingsmaßnahmen. Im Schießtraining zum Beispiel haben wir in mehrjähriger Forschung ein kleines Zusatzmodul entwickelt das speziell taktische Blicksteuerung und Aufmerksamkeitsausrichtung trainiert, und zwar in Schieß- und Nicht-Schießentscheidungen. Das ist ein fertiges Produkt das nun für die Anwendenden bereit steht.
VEST SiFo: Basiert das Training auf einem Forschungsprojekt?
Prof. Dr. Christine Sutter: Das ist eigene Forschung, wo wir keine speziellen Drittmittel eingeworben haben, sondern hier vor Ort auf Fragestellungen reagiert haben, die aus der Praxis kamen. Und das bewegen wir dann auch so ein bisschen, zum Beispiel mit Promovierenden oder auch in Masterarbeiten. Speziell das Schießtraining ist das Ergebnis aus zwei Promotionen. Das heißt, wir konnten hier wirklich auch einen Forschungszeitraum von vier, fünf Jahren nutzen, um ein sehr solides, sehr gut validiertes Training zu entwickeln.
VEST SiFo: Wird das Schießtraining in der Polizei angewendet?
Prof. Dr. Christine Sutter: Das ist ein guter Punkt. Wir stellen dieses Modul immer wieder vor und hoffen, dass sich da die eine oder andere Polizeibehörde noch anschließen wird. Im Moment müssen wir da sozusagen eine Eigenvermarktung betreiben. Das ist für uns ein etwas ungewöhnlicher Weg, daher erhoffe ich mir auch von dem Interview, dass vielleicht noch der eine oder andere Interessent im Nachgang auf uns zukommen wird. Es ist ein Tool das wir natürlich nicht ins Internet stellen, weil wir ja Polizei- und Sicherheitsbehörden damit unterstützen möchten und denen stellen wir das auch kostenfrei zur Verfügung. Mit entsprechender Kurzeinweisung. Wir haben aber auch noch andere Trainingsverfahren, zum Beispiel zu Mental-Imagery-Training.
VEST SiFo: Was bedeutet Mental-Imagery-Training?
Prof. Dr. Christine Sutter: Das ist mentales Vorstellen. Man sieht das ganz häufig bei Profisportler:innen, die beispielsweise vor dem Durchfahren eines Slaloms die Augen schließen und nochmal den Parcours visualisieren. Dann machen sie auch tatsächlich so Hin-und-Her-Bewegungen mit dem ganzen Körper. Das führt dazu, dass über diese Vorstellung entsprechende Neuronen im Prämotorischen Cortex aktiviert werden, und das sind genau die gleichen Neuronen und Aktivierungsmuster, die auch beim Ausführen der Handlung aktiviert sein müssen. Dadurch erreicht man ein stärkeres Aktivierungsnetzwerk das dann schneller abrufbar ist und damit können dann auch schneller die Handlungen abgerufen werden. Das kann einmal zum Einstudieren von motorischen Tätigkeiten wichtig sein, wie es ja sehr häufig im Einsatztraining erforderlich ist. Da muss schnell auf bestimmte Situationen reagiert werden. Es kann aber auch zur Stressverarbeitung eingesetzt werden, beispielsweise indem belastende Situationen visualisiert werden und man sich somit schon auf einen gewissen Kontext einstellt.
VEST SiFo: Trainingsmaßnahmen waren ja auch ein Teil des EU-Forschungsprojekts TARGET. Worum ging es genau und wie ist es danach weitergegangen?
Prof. Dr. Christine Sutter: Genau, das Projekt TARGE (Öffnet in einem neuen Tab)T ist in einem EU-Forschungsverbund entstanden und hat sich mit verschiedenen Großeinsatzlagen beschäftigt, diese in virtueller Realität abzubilden und so eine Trainingsplattform für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben in der EU zu entwickeln. Wir als DHPol haben dort als Einsatzszenario einen Massenunfall umgesetzt, der so vor etlichen Jahren hier im Münsterland passierte. Der Vorteil, wenn Sie mit virtuellen Trainingsplattformen arbeiten, ist, dass Sie viele Dinge systematisch im Hintergrund variieren können. Sie können einzelne Aspekte herausnehmen und diese speziell üben. Sie können gucken wie der Einsatzabschnitt Verkehr vor Ort arbeitet, Sie können Führungsarbeit im Stab üben. Wir haben schon während der Projektphase mit unserem Szenario hier an der Hochschule in der Lehre gearbeitet. Wir haben dieses Projekt auch in Fortbildungen entsprechend vorgestellt. Aber wir haben dieses Szenario auch an eine andere polizeiliche Ausbildungseinrichtung weitergegeben, und zwar mit der kompletten Ausrüstung, womit eine ganze Zeit lang dann noch Bachelorstudierende beschult wurden.
VEST SiFo: Wie haben die Studierenden darauf reagiert?
Prof. Dr. Christine Sutter: Die Resonanz ist super positiv. Und was natürlich nochmal ganz spannend ist, ist halt die Immersion, also wie realitätsgetreu man tatsächlich mit der VR-Brille in dieses Szenario eintauchen und den Unfallort begehen kann. Also das hat natürlich einen enormen Mehrwert, weil wir hier eben eine solche Situation vielen Studierenden zugänglich machen können, was ja so in der Realität nicht leistbar wäre.
VEST SiFo: Im Themenfeld der Verkehrssicherheit haben Sie – neben Ihrer Forschung zur Verkehrsunfallprävention in den Projekten FEGIS+ (Öffnet in einem neuen Tab)und PreAsist (Öffnet in einem neuen Tab) oder zu klassischen Fragestellungen z.B. im Rahmen des "Bundeslagebild Drogen im Straßenverkehr" – auch aus kognitionspsychologischer Perspektive die Automation im Straßenverkehr untersucht. Was sind Ihre Erkenntnisse dazu?
Prof. Dr. Christine Sutter: Ja, das ist ganz spannend, denn Automatisierung und Vernetzung sind Fluch und Segen zugleich. Also, ich fang mal mit dem Fluch an: Wir hoffen ja immer, dass wir durch die Automatisierung und Vernetzung den Straßenverkehr effizienter, aber auch sicherer machen können. Effizienter, das wird bestimmt der Fall sein, weil wir Fahrzeuge, auch autonome Fahrzeuge, mit geringerem Abstand fahren lassen können, was sich positiv auf die Schadstoffemissionen, den Verbrauch und so weiter auswirkt. Ob es auch sicherer wird? Das muss man abwarten. Meine Prognose ist, dass wir weiterhin Unfälle haben werden. Einfach deshalb, weil wir Menschen im Straßenverkehr eben die Verkehrsteilnehmenden sind, uns kann man nicht komplett rausnehmen. Das ist ein Aspekt. Der andere Punkt, wo Automatisierung durchaus auch negativ zu sehen ist, liegt in der Überlastung von Fahrzeugführenden in dem Moment, wenn wir von teil- oder hochautomatisierten Fahrzeugen sprechen. Wir haben viele Dinge, die im Fahrzeug über Anzeigen oder über auditive Signale an uns herangetragen werden, zu denen wir erstmal ein Verständnis entwickeln müssen, was das alles tatsächlich bedeutet, zu was wir überhaupt aufgefordert werden. Das kann schon zu einer kognitiven Überlastung führen.
Der Nutzen, der ist ganz unbestritten, gerade in Bezug auf alles was unterstützende Assistenzsysteme angeht, wie der Spurhalteassistent, der Toter-Winkel-Assistent oder auch die Intelligent Speed Assistance. Super gut, weil uns so ein Assistenzsystem immer dann kompensiert, wenn wir mal ein bisschen unaufmerksam sind oder unsere Informationsverarbeitung einfach von Natur aus fehleranfällig ist.
VEST SiFo: Wenn Sie auf das Thema Praxistransfer schauen: Welche Herausforderungen haben Sie bisher erlebt?
Prof. Dr. Christine Sutter: Also die größte Herausforderung ist der zeitliche Aspekt. Die richtige Ansprech- oder Kontaktperson zu finden, da stehe ich als Wissenschaftlerin doch ein bisschen außerhalb der Polizeiorganisation. Das ist natürlich innerhalb der Polizei viel, viel unkomplizierter möglich. Genau deswegen macht es natürlich immer Sinn, sich auch in diesem interdisziplinären Verbund zu bewegen, um eben solche Synergien mit nutzen zu können. Das andere sind eigentlich die Klassiker, dass Sie eben gute Argumente brauchen, um den Mehrwert von Trainingsmaßnahmen, oder einer virtuellen Plattform, aufzuzeigen. Sie müssen sich einfach die Zeit nehmen hier auch gut zu kommunizieren und erstmal eine gewisse Sensibilisierung für ein Thema und dann eine Bereitschaft für eine Veränderung zu bewirken. Und das braucht einfach ein bisschen Zeit. Also ich bin da relativ entspannt bei den Herausforderungen, denn letztendlich ist es immer so: gute Dinge werden auch immer ihren Weg in die Praxis finden und dort auch einen guten Mehrwert generieren.
VEST SiFo: Vielen Dank für das Gespräch!